Nachruf auf den Historiker Thomas Großbölting
Contemporary Church History Quarterly
Volume 31, Number 1 (Spring 2025)
Nachruf auf den Historiker Thomas Großbölting
By Manfred Gailus, Technischen Universität Berlin
Die Nachricht war ein schwerer Schock: Am 11. Februar stieß in Hamburg-Harburg ein ICE mit einem schwer beladenen Sattelschlepper zusammen, der fatalerweise auf einem ebenerdigen Bahnübergang stehengeblieben war. Es gab Verletzte und ein Todesopfer. Einen Tag später erfuhren wir, dass es der Historiker Thomas Großbölting war, der auf diese tragische Weise im Alter von 55 Jahren aus dem Leben gerissen wurde. Ein Schock, nicht zu fassen, ein vermeidbarer Unfall, und ausgerechnet er.
Großbölting stammte aus Westfalen (Dingden/Kreis Wesel) und studierte nach dem Abitur Geschichte, katholische Theologie und Germanistik. 1997 wurde er mit einer Studie über SED-Diktatur und Gesellschaft in der Region Magdeburg und Halle promoviert. Bei Hans-Ulrich Thamer in Münster habilitierte er sich mit einer Untersuchung über Industrie- und Gewerbeausstellungen im 19. Jahrhundert. Er bekleidete zahlreiche Anschlusspositionen in Magdeburg und Berlin, bis er 2009 einen Ruf als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster annahm. Beruflich außerordentlich erfolgreich und mit innovativen Projekten stets in Bewegung begriffen, trat er 2020 die renommierte Position des Direktors der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg an.
Er hinterlässt ein beeindruckend breitangelegtes, vielfältiges wissenschaftliches Oeuvre. Der Öffentlichkeit wurde er insbesondere durch die Leitung einer wissenschaftlichen Untersuchung zum Missbrauch im Bistum Münster bekannt, die 2022 erschien. An der im Januar 2024 publizierten Aufarbeitungsstudie zu sexualisierter Gewalt in den evangelischen Kirchen war er ebenfalls maßgeblich beteiligt. Großbölting veröffentlichte über katholische Konfession und Religion im Nationalsozialismus, über die gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung von Bi-Konfessionalität in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zuletzt über die deutsche „Wiedervereinigungsgesellschaft“ seit 1990.
Vielbeachtet war seine Studie „Der verlorene Himmel“ (2013) zum gesellschaftlichen Bedeutungsverlust beider großen christlichen Konfessionen nach 1945. „Ein ‚christliches Deutschland‘“ – so schrieb er damals pointiert – „gibt es nicht mehr.“ Gleichwohl seien Glaube, Kirchen und Religion aus dem Leben der Deutschen nicht verschwunden, aber sie hätten sich verdünnt und seien mehr und mehr an den Rand geraten. Seinerzeit verfasste Großbölting mit diesem lesenswerten Buch eine erste umfassende moderne Religionsgeschichte der Deutschen seit 1945, ein Buch, in dem seine eigene katholische Hintergrundprägung sublim durchscheint.
Es fällt schwer, diesen Nachruf schreiben zu müssen. In Hamburg, wo er seit 2020 wirkte, hatte er in wenigen Jahren eine enorme Fülle an neuen Projekten angeregt und viele verantwortliche Positionen übernommen. Man wird ihn schwerlich ersetzen können. Jeder Kollege, jede Kollegin, überhaupt alle, die ihn kannten, schätzten seine stets freundliche, zugewandte, liebenswürdige Art – dabei konnte er gut zuhören und brachte immer frische Ideen mit, in jedem Gespräch, auf jeder Tagung. Als ich im Dezember 2021 in der Berliner Stiftung Topographie des Terrors ein Buch über Religiosität im „Dritten Reich“ vorstellte, sagte er sofort für die Moderation zu und kam von Hamburg herüber – mit dem Hochgeschwindigkeitszug. Fotos von diesem Abend zeigen ihn, wie er war und wie er im Gedächtnis bleiben wird: anregend, ideenreich, immer klug und abwägend in seiner Argumentation.
Wir alle werden ihn sehr vermissen. Mit seiner Familie – er hinterlässt seine Frau und vier Kinder -, mit vielen Historikerinnen und Historikern, und mit allen, die ihn kannten, trauern wir um einen hochgeschätzten Kollegen und überaus liebenswürdigen Menschen.